«Ein Unikat in Serie» im Kunsthaus Grenchen
«Ein Unikat in Serie» - 75 Jahre Edition VFO
Kunsthaus Grenchen, Villa Girard | 10. September 2023 bis 28. Januar 2024
Die Edition VFO ist der grösste Verlag für originale und limitierte Kunsteditionen in der Schweiz. Der durch Mitglieder geförderte Kunstverein engagiert sich für die Erhaltung der traditionellen Techniken der Druckgrafik und pflegt den aktuellen Diskurs zum Druck in der zeitgenössischen Kunst. Zum 75-jährigen Jubiläum der Zürcher Institution sind dem gegenwärtigen Schaffen der Edition VFO drei Museumsausstellungen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten gewidmet worden. Beginnend im Musée Jenisch Vevey wurde die Frage des Sammelns in Serien untersucht. Folgend wurde im Museo Villa dei Cedri in Bellinzona die Frage der spartenübergreifenden Politisierung der Kunstproduktion herausgehoben. Die finale Ausstellung des Jubiläums im Kunsthaus Grenchen thematisiert das seit jeher umtreibende Konzept des Unikatcharakters, das oft mit Originalität und Authentizität verwechselt wird.
Die Ausstellung Ein Unikat in Serie veranschaulicht die Druckgrafik als vollwertige, konzeptuelle Gattung, jenseits der reinen Vervielfältigung. Mehr noch soll diese Ausstellung verdeutlichen, dass der Druck ein Verfahren ist, dem zwar die Reproduktion zu Grunde liegt, das aber keine notwendige Bedingung dieses Mediums darstellt. Die Druckgrafik ist transdisziplinär und beschäftigt sich neben politischen Fragen auch mit anderen zeitgenössischen künstlerischen Praktiken. Dabei denken die Künstler:innen ihre Praxis medien- und technikübergreifend, ohne sich nur auf Druck, Malerei, Skulptur oder Video zu beschränken, sondern sich vielmehr auf formale, politische, soziale und ästhetische Fragen zu konzentrieren und die notwendigen Produktionsformen für das Konzept ihres Werkes anzugehen.
Villa Girard Erdgeschoss
Die Ausstellung beginnt mit einer Serie von Frottagen des Künstlers Tobias Kaspar. Die Arbeit stammt aus der konzeptionellen Werkgruppe «Rented Life». Der Künstler liess sich in Bezug auf das klassische Mäzenatentum Schuhe finanzieren, indem er Frottagen dieser für einen Aufpreis der Schuhpaare verkaufte. Frottagen, also Abriebe sowie Kartoffel- und Stempeldrucke sind die ältesten Verfahren, die man als Druck bezeichnen kann und wurden bereits im 7. Jahrhundert in Ostasien genutzt. Daneben geht Emil Michael Klein in seinem Siebdruck «Ohne Titel», denselben abstrakten Form-Fragen nach, wie in seiner Malerei. Dabei sind die Belichteten Ulano-Folien immer leicht anders platziert, sodass jedes Blatt einen Unikatcharakter hat. Nicht alle Exponate der Ausstellung würden als Druckgrafik deklariert werden, da die Edition VFO auch Multiples verlegt und viele von ihnen in dieser Ausstellung präsentiert werden. Alfredo Aceto’s Krawatten z.B. sind Multiples und spielen einerseits humoristisch mit dem Schlips als bürgerliches Männlichkeits-Merkmal, andererseits mit Filz, das als Material in der zeitgenössischen Kunst vor allem durch Beuys popularisiert wurde. Jede Krawatte hat einen anderen Pin, der sorgfältig vom Künstler über die Jahre in verschiedenen Flohmärkten angekauft und gesammelt wurde. Jede Krawatte ist entsprechend ein serielles Unikat. Renée Levi, die im September 2023 am Schweizerischen Bundeshaus die Kunst-am-Bau Arbeit «Thilo» enthüllte, ist mit sieben Monotypien vertreten. Die Monotypie ist ein klassisches Verfahren, in dem die Künstlerin auf eine flache Oberfläche malt und diese dann durch einen Abklatsch direkt abdruckt. Man könnte von indirekter Malerei auf Papier sprechen. Die Monotypien Levis sind in zwei Gruppen unterteilt, einerseits gestische Malereien und andererseits Zahlen, die nichts anderes als eine formgebende Geste sind. Die Farbe, die für die Monotypien verwendet wurde, hat der Drucker Thomi Wolfensberger speziell für die Künstlerin aus dem Mangan-Pigment angemischt.
Mirko Baselgia, der in Graubünden ansässig ist und dessen Kunst sich vor allem mit Natur beschäftigt, wählte das Medium der Dermotypie, des Felldrucks. Da er das ganze Fell eines Stieres unterteilt hat und jedes Stück einzeln druckte, ist auch hier jedes Blatt ein Unikat. Charlotte Herzig wiederum spielt mit dem Unikats-Charakter, in dem sie klassische Lithografien in der Mitte mit einem Aquarell collagiert. Auch wenn sich die Aquarelle ähneln, sind sie alle handgemalt und entsprechend singulär. Daneben befinden sich zwei übergrosse Linolschnitte von Denis Savary. Die überlebensgrossen Sonnenschirme tragen den Titel «Figueras» und beziehen sich auf die Geburtsstadt von Salvador Dali, der auch das Design für die Lollipop-Marke Chupa Chups konzipiert hat. Die Schirme sind in Anlehnung an das Muster des berühmten Lollipops mit kräftigen, schillernden und übereinander gelegten Farben gedruckt. Neben den Linolschnitten werden, die mit verschiedenen Verfahren konzipierten Werke von Selina Trepp präsentiert. Aus 17 seriellen Unikaten, bestehend aus Holzschnitt, Siebdruck und Aquarell, kreierte die Künstlerin ein Stop-Motion Video, das die US-Vizepräsidentin Kamala Harris zeigt, wie sie im Wahlkampf Mike Pence, als er sie wiederholt unterbrach, entgegnete «I’m Speaking». Die drei letzten Arbeiten im Untergeschoss sind übermalte Inkjets auf Chromolux-Karton von Louisa Gagliardi. Jedes Lachsstück ist mit Nagellack bearbeitet und somit wie die grossen Werke der Künstlerin eine Mischung aus Druck und Malerei. Beim genauen Betrachten der Werke werden kleine Menschen mit Gläsern und Essen sichtbar, die nach einem Fest in den Fettschichten des Lachses verschwinden – eine Reflexion zu unserer Überflussgesellschaft. So haben viele Arbeiten neben ihren formalen Komponenten, natürlich auch immer politische, soziale und kunsthistorische Bezüge.
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Charlotte Herzig, Denis Savary, Selina Trepp, Renée Levi; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Alfredo Aceto, Emil Michael Klein, Tobias Kaspar; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Alfredo Aceto; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Tobias Kaspar; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Mirko Baselgia, Charlotte Herzig; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Mirko Baselgia; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Renée Levi; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Renée Levi, Alfredo Aceto; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Charlotte Herzig; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Denis Savary; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Louisa Gagliardi, Mirko Baselgia, Charlotte Herzig, Denis Savary; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Louisa Gagliardi; Foto: Cédric Mussano
Villa Girard Obergeschoss
Im zweiten Obergeschoss ist eine breitere Vielzahl serieller Unikate zu sehen, dabei kombinieren viele Kunstschaffende verschiedene Techniken, in denen auch der Bildträger eine zentrale Rolle spielt. Pia Fries verknüpft Siebdruck, Fotografie und Malerei, und stellt uns vor die Frage, in welche Gattung die Werke gehören. Die gemalten Elemente sind dabei so pastos und gestisch, dass man die Frage damit beantworten kann, dass sie alle diese Techniken beinhalten und sich einer klaren Klassifizierung widersetzen. Das ist auch bei Marius Lüscher und Cédric Eisenring der Fall. Während Eisenring Tiefdruck, Inkjet und Zeichnung kombiniert, malt Lüscher durch verschiedene Kombinationen von Ausschnitten und Farben mit der Druckmaschine.
Michael Günzburger, dessen Oeuvre sehr vielseitig die zeitgenössische Druckgrafik prägt, hat zusammen mit einem Barkeeper einen Cocktail geschaffen, dessen Ingredienzen gedruckt wurden. Dabei musste pro Druck immer ein Cocktail zubereitet (und getrunken) werden und dann die Reste im Glas in seine Einzelteile auf der Druckmaschine zerlegt werden. Die Frage der Klassifizierung der Werke zieht sich oftmals durch zeitgenössische Druckgrafik, vor allem wenn sie dazu aufgewendet wird, nicht ein reproduzierbares Werk per se zu schaffen, sondern wenn sie als konzeptueller Kern des Werkes verstanden wird. So collagierte Valérie Favre die Buchseiten von Virginia Woolfs Roman «Ein Zimmer für sich allein». Durch die Anordnung der unterschiedlichen Seiten, die mit Siebdruck und mit Acryl bearbeitet wurden, ist hier jedes ein Unikat, gehört aber zu der Serie der Werke, die das ganze Buch in mehrfacher Ausführung abbilden. Izidora I LETHE ist mit drei Tiefdrucken und orangenen Paintbrush Monotypien vertreten. Neben Fragen von Körperlichkeit untersuchen diese Werke die Genese der Farbe «Orange», die es als Farbe und auch als Namen bis zum 16. Jahrhundert nicht gegeben hat (man sprach von Rot oder Gelb).
Einige Kunstschaffende in dieser Ausstellung, arbeiten mit fotografischen Mitteln. Fotografie hat ihren Ursprung im Tiefdruckverfahren der Heliogravüre und gehört deshalb für uns auch in das erweiterte Feld der Druckgrafik. Das Künstler-Duo Taiyo Onorato & Nico Krebs wählte eines ihrer surrealistischen Fotomotive, die Sie mit einem Monotypie-Farbverlauf überdruckten. Delphine Reist hingegen hat Fotogramme einer Schneekette als Handabzüge auf Barytpapier realisiert, dabei wurde die Schneekette von der Künstlerin immer anders auf dem Papier drapiert. Eine ganze Werkgruppe von Philippe Decrauzat kreist rund um den Kunstfilm «Replica», der den Barcelona Pavillon von Mies van der Rohe unter die Lupe nimmt. Decrauzats abstrakte Werke zeigen Videostills von Marmor als Cibachrom, neben einem Foto der Filmrolle und sechs weiteren Stills, die lediglich durch die Wahl von Passepartout Ausschnitten immer anders erscheinen. Elza Sile untersucht in ihren vier Arbeiten Fragen von Räumen mit architektonischen Schablonen-Mustern. Bei konzeptuellem Arbeiten mit Schablonen liegt der Siebdruck nahe, dabei sind die Serigrafien auf Metallplatte von der Künstlerin mit Formen geprägt und bemalt worden. Auch Shahryar Nashat erforscht Körper und ihre Beziehung zu Räumen, so hat der Künstler einen 3D-Scanner installiert, der über 360° Aufnahmen von einem Arm, der mit einer Skulptur interferiert, zeigt. Da der Scanner den Raum, wo menschlicher Körper und Skulptur aufeinandertreffen, nicht lesen kann kommt es zu einem Glitch – Sie sehen drei Unikate aus einer Serie von 17.
Der in Los Angeles lebende Künstler Walead Beshty ist prominent mit zwanzig in Gold bedruckten Ein-Dollar Scheinen zu sehen. Als wir den Künstler für eine Edition anfragten, entgegnete dieser, dass es für ihn konzeptuell keine Editionen gibt, da jedes Werk egal welcher Art immer ein Unikat und zwei Objekte nie gleich seien. Dementsprechend wählte er als Untergrund für seine mit Goldbronze bedruckten Werke 1-US-Dollar Scheine, da jeder Geldschein ein nummeriertes und klar identifizierbares Unikat ist. Vis-à-vis zeigt Raphael Hefti industriell anodisierte A4 Metallplatten, ein ähnliches Verfahren wie beim Ätzen der Metallplatten für den Tiefdruck. Hier ist jedes Wasserbad mit einer anderen Farbe und einem anderen Verlauf versehen, sodass Hefti die Metallplatten selbst zu Unikat-Werken innerhalb einer Serie erhebt.
David Khalat
Direktor, Edition VFO und Kurator der Ausstellung
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Cédric Eisenring; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Marius Lüscher, Cédric Eisenring; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Marius Lüscher; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Pia Fries; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Cédric Eisenring, Pia Fries; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Michael Günzburger, Onorato Taiyo & Nico Krebs, Izidora I LETHE, Valérie Favre; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Pia Fries, Shahryar Nashat, Michael Günzburger; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Izidora I LETHE; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Valérie Favre; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Philippe Decrauzat, Shahryar Nashat, Elza Sile, Delphine Reist; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Philippe Decrauzat; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Delphine Reist; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Shahryar Nashat; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Raphael Hefti, Walead Beshty; Foto: Cédric Mussano
Installationsansicht Kunsthaus Grenchen, Raphael Hefti; Foto: Cédric Mussano
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Um mehr über die einzelnen Positionen zu erfahren, konsultieren Sie die Publikation «Print Art Now», die vor kurzem im Verlag von Scheidegger und Spiess erschienen ist. Das Buch vereint drei Museums-Ausstellungen zum Jubiläum der Edition VFO und erkundet Themen der zeitgenössischen Druckgrafik, Rund um die Serialität, die medienübergreifenden politischen Diskurse und die Fragen nach Originalität und Unikatcharakter.
«Print Art Now»
Herausgegeben von David Khalat
2023
Gebunden
196 Seiten, 184 farbige Abbildungen, 20 x 27 cm
Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch
ISBN 978-3-03942-149-7